Woran lässt sich erkennen, dass das Thema Börse en vogue ist? Zum Beispiel an der Magazin-Beilage des Kölner Stadt Anzeigers. Dort, wo sonst essenzielle Lebensfragen wie „So setzen Sie ihren Hund fotografisch in Szene“ oder „Die besten Rezepte zur Grillsaison“ behandelt werden, erfuhren die Leserinnen und Leser in einem Aufmacher im Mai unter dem Titel „Die neuen Börsianer“ alles über „die wichtigsten Fragen und Antworten zum Aktien-Boom“. Auch im Freundes- und Bekanntenkreis ist das Thema Investment plötzlich fast so angesagt wie die Frage, wie man an eine Biontech-Impfung kommt. So verkündete ein Bekannter kürzlich stolz in einem feierabendlichen Zoom-Meeting, dass er mit seinem Depot den S&P-500-Index um zweistellige Prozentpunkte outperformed habe. Auch Crypto-Investments wären sicher das Gesprächsthema auf jeder Party, wenn es denn welche gäbe.
 

Liebling Sparbuch

Die Begeisterung für Kapitalmarkthemen ist eigentlich erfreulich. Schließlich galten Aktien in Deutschland lange Zeit eher als exotisch. Girokonten, Sparbücher, Lebensversicherungen und Bausparverträge sind traditionell die bevorzugten Anlageformen. In einer Statista-Erhebung vom Juni 2021 gaben etwa 43 Prozent der befragten Deutschen an, dass sie derzeit ein Sparbuch bzw. Spareinlagen zur Geldanlage nutzen. Renten- und Kapitallebensversicherungen wurden im Frühjahr 2021 von ca. 30 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger genutzt. Auf dem vorletzten Platz der Top 10 der beliebtesten Geldanlagen der Deutschen standen mit etwa 17 Prozent Aktien. „Die Deutschen sparen viel, aber falsch“, brachte es Handelsblatt Chefredakteur Sebastian Matthes Mitte Mai in einem Leitartikel auf den Punkt. Der jahrelange Boom an den Börsen ist an vielen Sparern vorbeigegangen, dies hatte gravierende Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Wohlstand und die Altersvorsorge.
 

Börsenboom statt Strafzinsfrust

Ändert sich dies durch die Corona-Pandemie? Offenbar haben nun viele Menschen Zeit dafür, sich mit Kapitalmärkten zu beschäftigen und sind offenbar wenig gewillt, ihren Geldinstituten Strafzinsen auf Sichteinlagen zu zahlen (ich verwende hier absichtlich nicht den Euphemismus „Verwahrentgelte“). Immerhin: Knapp 12,4 Millionen Bundesbürger sind laut Deutschem Aktieninstitut derzeit in Aktien investiert. Fast so viele wie im Börsenboom um die Jahrtausendwende. 

An genau diese Zeit fühle ich mich derzeit häufiger erinnert. Damals machte sogar die Bild-Zeitung mit „Gewinneraktien am Neuen Markt“ auf. Und die Frage, wie man beim dritten Börsengang an die begehrte T-Aktien gelangte, wurde ähnlich leidenschaftlich diskutiert wie aktuell Tipps & Tricks rund um Spacs, die derzeit aus den USA zu europäischen Börsen herüberschwappen.  Auf den Hype folgte damals der Crash und die Ernüchterung. Mit bleibenden Folgen: Die T-Aktie dümpelt heute immer noch bei rund 17 Euro herum. Zur Erinnerung: Bei der dritten Kapitalerhöhung 21 Jahre zuvor hatten viele Anleger 66,50 für das Papier gezahlt. Andere Hype-Aktien wie Intershop oder EM.TV sind ganz vom Kurszettel verschwunden. Der finanzielle Schaden war für viele Anleger enorm. Noch schlimmer aber war der Schaden für das zarte Pflänzchen der deutschen Aktienkultur. Viele Menschen haben sich vom Aktienmarkt abgewendet und sind nie wieder zurückgekommen. Geblieben ist allein die tägliche Börsensendung im Ersten kurz vor der Tagesschau. Na immerhin.
 

Von Flat-Fees und Online-Casinos

Wiederholt sich das 2000er-Neue-Markt-Telekom-Desaster derzeit? Vorab: Eine Korrektur an den Märkten erscheint angesichts sich andeutender Inflationssorgen und hoher Bewertungen durchaus denkbar. Sie wäre auch völlig normal. Die Frage ist, ob viele der neuen Börsianer auch akzeptieren, dass die Börse keine Einbahnstraße ist. Hier trägt die Finanzindustrie auch eine kommunikative Verantwortung. Es sieht allerdings nicht so aus, als ob Teile der Branche dem gerecht werden. Neo-Broker werben gerade offensiv mit ihrem Angebot, von überall mit dem Smartphone zu günstigen Konditionen zu traden.  „Handelujah“ frohlockt etwa ein Münchener Online Broker in seiner aktuellen Kampagne. Doch das Angebot „unbegrenzt Aktien und ETFs für 2,99 Euro im Monat traden“ zahlt jetzt eher nicht auf den Aspekt des verantwortungsvollen Investierens ein. Und ähnlich wie beim US-Riesen Robin-Hood und seinem deutschen Pendant Trade Republic ist auch die Benutzerführung bei mancher Handelsapp eher spielerisch angelegt:  Ein „Swipe“ nach oben, und der Deal ist ausgeführt. Das verleitet zum schnellen Trade mit echtem Geld. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts einzuwenden, solange auch Sportwetten und Online-Casinos erlaubt sind. Nur mit ernsthaftem Investieren hat das nichts zu tun. Und meine Sorge ist:  Bei der Gamifizierung des Tradens könnte sich letztlich auch für das zart keimende Pflänzchen der deutschen Aktienkultur der alte Zewa-Claim bewahrheiten: Mit einem Wisch ist alles weg. 

Sinnvoll hingegen wäre eine verantwortungsvolle Aufklärung rund um das Thema investieren. Kernbotschaft: Rückschläge an den Börsen sind möglich, aber eine breite Diversifizierung und langfristiges Investieren in Aktien schlägt die meisten Anlageformen deutlich. Umso besser, wenn dies mittlerweile einfach auch per Smartphone möglich ist.
 

Sollten Sie Unterstützung bei der Kommunikationsplanung benötigen, beraten und begleiten wir Sie gerne.
 

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